Rezension: The Responsibility Process. Unlocking your natural ability to live and lead with power (Avery).
Avery, Christopher (2016): The Responsibility Process. Unlocking your natural ability to live and lead with power. Pflugerville, TX: Partnerwerks, Inc., ISBN13: 978-0-9977472-0-1, Preis: 19.95$
Einen interessanten Ansatz für Führungskräfte führt der Organisationswissenschaftler Christopher Avery ein: den Responsibility Process, der ganz in der Tradition von systemischer Führung die selbsteinschließende Reflektion (vgl. R. Arnold, 2011) ins Zentrum rückt. Jede wirkungsvolle Führungsarbeit muss permanent von Selbstführung und der Erkenntnis in eigene Interpretations- und Handlungsmuster begleitet werden. Einen wichtigen Aspekt davon rückt Avery in den Vordergrund: die Verantwortung.
Mit Hilfe des von Avery vorgelegten Responsibility Process wird der Leser zur Annahme von Verantwortung aufgefordert. Für Beratende ein sicherlich häufig gehörter Wunsch, dass Kolleginnen und Kollegen mehr Verantwortung übernehmen sollen, jedoch ohne Verständnis, wie eine Kultur der Verantwortung geschaffen und vorgelebt werden könnte.
Das Buch ist weniger eine wissenschaftliche Veröffentlichung, sondern darf eher der Managementliteratur zugerechnet werden. Ungeachtet dessen reiht es sich thematisch in das Thema systemische Führung ein und schlägt mit dem Responsibility Process einen Rahmen zu kraft- und wirkungsvollem Handeln vor.
Seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2016 hat das Buch einen nachhaltigen Widerhall in der agilen Community hinterlassen, was nicht nur an den diversen Auftritten von Avery auf Konferenzen liegen dürfte, sondern auch am leichten Zugang des Modells.
Eine wichtige Unterscheidung führt das Buch zu Beginn ein: die zwischen verantwortlich sein (held accountable) und in Verantwortung gehen (take responsibility) (s. S. 45ff). Während die accountability eine in der Rolle und den damit verbundenen Aufgaben liegenden Verantwortung ist und sich auf externe Erwartungen bezieht, ist die responsibility ein aktiver Prozess und bewußte Wahl des Handelnden. Diese sprachliche Unterscheidung kommt im Deutschen nicht so stark zum Tragen und erscheint mit Redewendung wie das oft bei Scheitern gehörte “Verantwortung übernehmen” wenig intuitiv.
Die Beschäftigung mit dem Thema über viele Jahre als Berater hat Avery einen mehrstufigen Prozess von psychischen Zuständen entwickelt, die aus einer Situation von Angst, Frust, Verärgerung oder ähnlichen ausgelöst werden. Dieser Prozess startet, sofern man das Problem nicht komplett leugnet (denial), mit der Stufe “Beschuldigen“ (lay blame) und durchläuft weitere Stufen von Ablehnung der Verantwortung: „Rechtfertigen“ (justify), „Schämen“ (shame) und „Verpflichtung“ (obligation). Erst in der letzten Stufe des Prozesses, der responsibility, wird die Herausforderung bewusst angenommen und aktiv bearbeitet. Um zur Verantwortung zu gelangen, müssen laut Avery allerdings diese Stufen zwingend in dieser Reihenfolge durchlaufen werden. In vielen Fällen verharrt man in einer Stufe und kommt nicht in den Zustand von wirkungsvollem Handeln.
Diese Stufen werden wie folgt beschrieben (s. S. 65ff):
- Beschuldigen: In der ersten Stufe sieht man andere als Auslöser des Problems und weist insofern die Verantwortung erstmal von sich weg, in dem man auf die Auslösenden zeigt. Beispiele: “die Marketing-Abteilung hat uns das Material nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt” oder “die Chefin hat mir nicht Bescheid gesagt”.
- Rechtfertigen: Auch in der zweiten Stufe sieht man das Problem extern, nämlich bei den äußeren Umständen. Typische Muster sind “ja, wir haben halt viele Meetings”, “das machen wir schon immer so, wird sich auch nie ändern” oder “unsere Software kann das leider nicht”.
- Schämen: In dieser Stufe wird die Verantwortung auf sich selbst genommen im Sinne einer Selbstbezichtigung. Durch die Beschäftigung mit dem eigenen Versagen wird ein Zustand von Verantwortung verhindert. Sprachlich erkennbar an “ich war nicht gut genug”, “ich hatte meine Termine nicht richtig im Blick” oder “das werde ich niemals schaffen”.
- Verpflichtung: Hier wird das eigene Handeln durch die externe Erwartung stark beeinflußt, ein eigenverantwortliches Handeln kommt dadurch nicht oder nur zufällig zustande. Sprachlich erkennbar an Wörtern wie “muss”: “jemand muss das eben machen” oder “als Schwiegersohn muss ich eben zum 60. Geburtstag gehen”.
- Verantwortung: Nur in der finalen Stufe der Verantwortung ist man in der Lage, verantwortungsvoll in Freiheit und Stärke (freedom and power) zu handeln, zu eigenen Bedingungen und aus eigener Wahl und Motivation heraus.
Die Stufen des Modells beschreiben, wie wir uns selbst hindern, volle Verantwortung zu übernehmen, indem wir uns in einer Stufe festhalten (vgl. S. 100) anstatt sie möglichst zügig zu durchlaufen. Hilfe kommt mit den drei Schlüsseln Intention (intention), Wahrnehmung (awareness) und Konfrontation (confront), die durch die Stufen leiten und helfen sollen, schneller zur Verantwortung zu gelangen (vgl. S. 128).
Die Intention hilft, in allen schwierigen Situationen das Ziel zu definieren, mit dem ein Zustand voller Verantwortung beschrieben ist. Der zweite Schlüssel Wahrnehmung schafft Klarheit über aktuellen Gemütszustand, womit dann die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden können, um weiter zu kommen. Der dritte Schlüssel, die Konfrontation, dürfte der schwierigste sein: durch die Konfrontation mit sich selbst und seinen inneren Konflikten können Erkenntnisse gewonnen werden, die helfen, das Problem zu bezwingen und in voller Verantwortung zu handeln. (vgl. S. 125)
Der eher theoretischen Beschreibung des Prozesses und der drei Schlüsseln folgt im Buch ein weiterer, praktischer Teil, der die Lesenden an die Hand nimmt und unzählige Übungen und Reflektionsfragen zur Verfügung stellt. Das bezieht sich nicht nur auf sich selbst, sondern wie auch in Führungsrollen oder als Coach eine Umgebung von Verantwortung geschaffen werden kann.
Avery liefert ein plausibles und vor allem brauchbares Verständnis zu einem Muster, das im persönlichen wie auch im Führungsalltag häufig beobachtbar ist. Mit dem Benennen der einzelnen Stufen und den damit verbundenen Verhaltensweisen hat Avery ein hilfreiches Werkzeug zur Analyse und Selbsterkenntnis an die Hand gegeben, mit dem man sich selbst im Hinblick auf die Situation verorten kann. Nicht alles im The Responsibility Process ist komplett neu, wurde aber anschaulich auf den Punkt gebracht. Die Sprache ist für ein Fachbuch einfach und leicht zu verstehen, ein paar weitere Illustrationen hätten dem Verständnis aber gut getan. Die sich durch das ganze Buch ziehenden Übungen sind sehr hilfreich und bieten ausreichend Reflektionsangebote. Gleichzeitig bleibt der Ansatz stark abstrahiert und verallgemeinert, die Individualität und der Kontext eines Systems findet keine Berücksichtigung. Gewonnen hätte das Buch mit umfangreicheren Literaturangaben. Zwar sind Querverweise pro Kapitel am Ende des Buches gesammelt, bleiben aber anbetracht der umfangreichen Forschungen auf dem Gebiet recht dünn. Berücksichtigt man den Charakter und die Zielgruppe des Buches, ist diese aber ausreichend. Die Lücke zwischen empirischer Forschung und dem Modell bleibt jedoch offen.
Averys “The Responsibility Process” ist ein Buch, das zwischen der Selbstführung und dem Begleiten von Teams ein wichtiges, wenn nicht entscheidendes Prinzip setzt: die Verantwortung. Mit den vielen Reflektionsfragen und Übungen gelingt auch der Spagat zwischen den täglichen Herausforderungen und einem sehr bewussten Umgang mit ihnen.
Der Autor dieser Rezension, der über das Lesen des Buchs hinaus Workshops bei Avery absolviert hat, bleibt vom Konzept überzeugt: mit klarer Intention in jede, auch noch so schwierige Situation zu gehen, sich selbst darin permanent zu verorten und in “Freedom, Power and Choice” (S. 1) wirksam durch Beruf und Leben zu gehen bleibt für ihn eines der hilfreichsten Werkzeuge.
Autor: Martin Stahl, 9/2021 für TU Kaiserslautern (Systemische Beratung)